Religiöse Diesseitigkeit – gibt es so etwas?
Geschreven door Tim van der GriendEin großer Vorwurf an das Christentum, wenigstens in den letzten 200 Jahren, ist, dass es vertröstet. Die Religion sagt vorrangig, so lautet der Vorwurf, dass es wirkliches Glück auf Erden eh nicht gibt. Wir haben es von einem gnädigen Gott zu erwarten, der aber aus menschlicher Perspektive – soll man glauben, was gemeinhin über ihn erzählt wird – ziemlich willkürlich handelt.
Das leben selbst leiden
Lange hatte das Bild des willkürlichen Gottes Plausibilität. Das Leben selbst war ja auch willkürlich und hart. Kindersterblichkeit; unheilbare lebensprägende Krankheiten; Schmerzen, die sich nicht lindern ließen, kontinuierliche Kriegsdrohung – erst, wenn es erste Medizin, mechanische Erfindungen, einen halbwegs gesicherten Wohlstand und längere Friedenszeiten gibt, kommt das Leben den Menschen weniger „launisch“ vor. Remonstranten gehörten vor etwa 400 Jahren zu den allerersten, die verstanden, dass diese Veränderungen eine Glaubensfrage mit sich bringen. Wenn Gott nur aufgrund von Gnade (also: völlig unbeeinflussbar) sein mildes Gesicht zeigt, wo bleiben dann das urmenschliche Bedürfnis und die urmenschliche Fähigkeit, selbst das Leben zu leiten, zu lenken und zu gestalten?
Nun sind wir vier Jahrhunderte weiter – aber der „Geist der Jenseitigkeit“ hängt nach wie vor über der Religion. Verlangt wird die Jenseitigkeit in unseren Teilen der Welt aber kaum noch. Verlangt wird umso mehr eine gefüllte, erfüllte Diesseitigkeit, aber um diese zu deuten – dafür fehlen uns die Worte.
Ich las in den vergangenen Monaten in einem kleinen Kreis das Buch Kohelet aus dem Alten Testament der Bibel. Der Kohelet, der auch Prediger genannt wurde, hat eine außergewöhnliche Weltsicht – und das nicht vor 200 oder 400, sondern vor etwa 2400 Jahren. Pessimistisch, zynisch, enttäuscht – dafür hält man ihn gerne. Hedonistisch, oberflächlich lebensfreudig, antireligiös – dafür hält man ihn auch gerne.
Freiheit
Wer das Buch aber liest (laut, langsam und mit anderen – dazu kann ich hier nur raten), der bemerkt, dass solche vorschnellen Etiketten es nicht ganz erfassen. Auf der einen Seite sieht der Prediger, was jeder Mensch sieht: Dass die Schlauen, Forschen und Gewalttätigen ziemlich gut mit ihrem Verhalten durchkommen. Und ja, kritisch kann man anmerken, dass Kohelet dagegen nicht auf die Barrikaden geht. Die Enttäuschung auf gesellschaftlicher Ebene führt aber nicht zu einer allgemeinen Lebensenttäuschung. Nein, er beantwortet sie mit dem Perfektionsstreben in allen Bereichen, in denen die Normalsterblichen in einigermaßen entwickelten Regionen („unsere Art von Menschen“) Freiheit haben. Ich zitiere hier nicht, aber rege dazu an, wenigstens Kapitel 9 und 10 zu lesen. Mache aus deinen Mahlzeiten eine Feier, verbinde dich innerlich mit den Aufgaben und stelle schöne Ergebnisse auf die Beine. Mache, dass du über dich selbst zufrieden sein kannst und über das Leben dankbar. Das ist des Predigers Aufruf.
Sinn in allen Möglichkeiten dieses Lebens erfahren
Das ist auf jeden Fall Diesseitigkeit. Es geht darum, Gott in allen Dingen dieses Lebens zu suchen. Es geht darum, Sinn in allen Möglichkeiten dieses Lebens zu erfahren. Die Botschaft von Kohelet ist aber nicht irgendeine Diesseitigkeit, sondern: religiöse Diesseitigkeit. Sein Aufruf zur Lebenskunst hält die Frage nach dem Jenseits implizit und an einigen Stellen auch explizit offen. Erstens wird das große Unrecht, auf das mir jeder sinnvolle Einfluss verwehrt bleibt, nicht verschwiegen, sondern als Rätsel beschrieben, das dann doch nach einem Gott schreit, der es – für den Menschen allerdings nicht einsehbar – richten möge. Zweitens hebt der Sinn, den ich in meinem kleinen persönlichen Leben erfahren kann und soll, dieses Leben über sich selbst hinaus. Irgendwo kommt diese Sinnerfahrung, diese Bestätigung, doch her?! Die Helligkeit, die ich suche, wenn ich nach Perfektion strebe, ist am Ende nicht (nur) mein eigenes Produkt, sondern fällt mir zu.
So sieht ein religiöses Bewusstsein aus, das nicht vertröstet.